Erlebnispädagogik im Handbuch Jugend – Evangelische Perspektiven

Das Handbuch Jugend – Evangelische Perspektiven, welches 2013 erschienen ist, hat auf Seite 343-345 folgenden Artikel von mir zur Erlebnispädagogik abgedruckt. CC BY Jörg Lohrer

Erlebnispädagogik

Ziele und Arbeitsformen

Erlebnispädagogik arbeitet mit einem pädagogischen Konzept zielorientiert und bevorzugt in der Natur oder dem naturnahen Raum vorrangig an der Förderung von Selbst- und Sozialkompetenzen. Dabei grenzt sich Erlebnispädagogik bewusst von ‚Nervenkitzel-Aktionismus‘ und der eskalierenden Suche nach dem Kick nach immer mehr und phantastischeren Erlebnissen ab. Die Förderung von Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, der Umgang mit Ängsten, das Erfahren und Überwinden von Grenzen, die Vemittlung von sozialen Kompetenzen können Zielsetzungen für erlebnispädagogische Maßnahmen in der evangelischen Jugendbildung sein. Dabei geht es auch immer um eine Erweiterung der eigenen Handlungskompetenzen zur Lebensbewältigung durch ein angstfreies Lernen in der Gruppe.

Erlebnispädagogik arbeitet mit Wahrnehmungs- und Vertrauensübungen, Kooperations- und Problemlösungsaufgaben, abenteuerlichen Aktionen, persönlichen Herausforderungen und Grenzerfahrungen. Angebote und Maßnahmen mit erlebnispädagogischem Charakter sind zum Beispiel Kanu- und Fahrrad-Touren, Kletteraktionen, kooperative Abenteuerspiele, Natursensibilisierung, Trekkingtouren, Nieder- und Hochseilparcours oder Geocaching.

Erlebnispädagogische Maßnahmen finden u.a. Anwendung im Bereich der Kooperation von Jugendverbandsarbeit und Schule, bei Klassenfahrten, der Präventionsarbeit, bei gruppendynamischen Prozessen, Mitarbeiterschulungen, der Entwicklung von Teamarbeit und in etlichen weiteren Praxisfeldern evangelischer Jugendbildung.

Mit den Arbeitsprinzipien Respekt, Selbstbestimmung, Vertrauen, Kooperation, Verantwortung und Ganzheitlichkeit korrespondiert die Erlebnispädagogik mit dem Profil der evangelischen Jugendarbeit. Ebenso liegen Chancen in einer Verknüpfung von erlebnispädagogischen Aktionen mit einer erfahrungsbezogenen Verkündigung. Erlebnispädagogische Maßnahmen werden als Jugendbildungsveranstaltungen gefördert, wenn sozial-ökologische Inhalte und/oder politisch-kulturelle Schwerpunktthemen mit gesellschaftlichem Bezug im Mittelpunkt der Maßnahme stehen.

Entstehung, Prinzipien, Methoden

Der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. (BE) nennt weit in die Vergangenheit zurück reichende Wurzeln der Erlebnispädagogik. Als wichtige Autoren, auf die das Konzept vom handlungsorientierten Lernen zurückgeführt wird, werden Platon (427–347 v.Chr.), Rousseau (1712–1778), Pestalozzi (1746–1827) und schließ- lich Kurt Hahn (1886–1974) als ‚Urvater‘ der Erlebnispädagogik genannt. Ihre heutige Vielfalt und weite Verbreitung hat die Erlebnispädagogik allerdings erst im 20. Jahrhundert und schließlich in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Erlebnispädagogik wird nicht nur im Bereich der Erziehung von Kindern und Jugendlichen angewandt, sondern findet inzwischen auch vielfältige Beachtung in der Arbeit mit nahezu allen Altersgruppen zu unterschiedlichen Problem- und Zielstellungen in der präventiven Kurzzeitpädagogik, der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung, im Rahmen der beruflichen Fort und Weiterbildung oder in Führungskräftetrainings (vgl. www.bundesverband- erlebnispaedagogik.de).

Als Grundprinzipien können unter anderem benannt werden: Handlungsorientierung, Ganzheitlichkeit, Eigenverantwortung, Freiwilligkeit, Sicherheit und Nachhaltig- keit. Dabei sind die pädagogischen, kompetenz- und ressourcenorientierten Angebote der Erlebnispädagogik stets eingebettet in die aktuelle Rechtsgrundlage und (Bildungs-) Politik.

Methodische Aspekte sind z.B.: der hohe Stellenwert des Erlebnisses und das Arbeiten mit erlebnispädagogischen Lernszenarien, nicht-alltäglichen Herausforderungen und Wagnissen, Einsatz verschiedener Medien und der Natur als bevorzugtem Lern- und Erfahrungsraum. Neben einer zunehmende Gruppenselbststeuerung baut die Erlebnispädagogik auf Lern- und Wirkungsmodelle wie das Komfortzonenmodell, das metaphorische Modell, Aktions- und Reflexionswelle oder das FlowModell. Erlebnispädagogik hat als Lernszenariotechnik zwar eine eigene Strukturlogik, dient jedoch ebenso als Methode im nicht genuin erlebnispädagogischen Kontext und entwickelt somit Reichweite, Relevanz und pädagogische Innovationskraft in Konfirmandenarbeit, Religionsunterricht und Gemeindepädagogik.

Aktuelle Fragestellungen und Entwicklungsperspektiven: Qualität und Wirkung

Als partizipatorisches Angebot setzt die Erlebnispädagogik auf das Prinzip der Freiwilligkeit und der selbstbestimmten Teilnahme. Unter dem Motto ‚challenge by choice‘ hat eine subjektorientierte Erlebnispädagogik stets zu gewährleisten, dass die Teilnehmenden den Grad ihrer Beteiligung und Verantwortungsübernahme selbst bestimmen können. Reiserechtliche Bestimmungen, Versicherung und Haftung sind daher aktuell handlungsleitendend bei der Erstellung von erlebnispädagogischen Angeboten und Konzeptionen. Hier gab es in den letzten Jahren zahlreiche Entwicklungen, die eine Qualitätssicherung der Mitarbeitendenbildung in Pädagogik und Sicherheitstechnik hinsichtlich geltender Kriterien voraussetzen und notwendig machen. Entsprechende Zusatzqualifikationen sollten daher immer mindestens durch die jeweiligen Fachsportverbände zertifizierbar sein. Mit dem Gütesiegel „Qualität erlebnispädagogischer Programme und Angebote – Mit Sicherheit pädagogisch!“ (beQ) hat der Bundesverband Individual- und Erlebnispädagogik e.V. (BE) ein Zertifizierungsverfahren entwickelt, das ein bundeseinheitliches Qualitätsmanagement fördern will.

Die Wirkungsforschung erlebnispädagogischer Lernarrangements untersucht deren Substanz, Akzeptanz und Nachhaltigkeit hinsichtlich ihrer Qualität von Konzept, Struktur, Prozess und Ergebnis. Studien konnten bislang Indizien für Impulse zur Kompetenzentwicklung nachweisen, die wissenschaftliche Evaluation gestaltet sich jedoch genauso komplex wie das Spektrum der erlebnispädagogischen Handlungsfelder und so fehlt es bislang an validen Studien, die das Wirkungspotenzial eindeutig beschreiben können.

Im Kontext evangelischer Jugendbildung stellt sich bei der Verwendung erlebnispädagogischer Methoden immer auch die Frage nach einer Verknüpfung von christlichen Inhalten mit der handlungsorientierten Pädagogik. Die Assoziation von Natur und Schöpfung ist beispielsweise ebenso naheliegend wie die Reflexion von religiösen Erfahrungen in erlebnispädagogischen Lernsettings. Inwiefern sich dabei Unverfügbares inszenieren lässt, bleibt dabei ebenso eine Herausforderung, wie bei der oben beschriebenen Wirkungsforschung. In den vergangenen Jahren haben sich einige Konzepte zur Erprobung erlebnispädagogischer Methoden im christlichen Kontext entwickelt, die zunehmend auch theologisch und religionsdidaktisch reflektiert werden. Eine überregionale Organisation dieser Einzelinitiativen auf Bundesebene wäre der nächste Schritt hin zu einem evangelischen Profil erlebnispädagogischer Jugendbildungsarbeit.

Literatur

Großer, Achim/Oberländer, Rainer/Lohrer, Jörg/Wiedmayer, Jörg (2005/2011): Sinn gesucht – Gott erfahren. Erlebnispädagogik im christlichen Kontext (Band 1 (2005)/Band 2 (2011)). Stuttgart: Buch und Musik. Heckmair, Bernd/Michl, Werner (2008): Erleben und Lernen. Einführung in die Erlebnispädagogik. München: Reinhardt. Reiners, Annette (2007): Praktische Erlebnispädagogik. Augsburg: ZIEL. Pum, Viktoria/Pirner, Manfred L./Lohrer, Jörg (Hrsg.) (2011): Erlebnispädagogik im christlichen Kontext. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, 2. bis 4. März 2009. Bad Boll: Evangelische Akademie.